Treibgut

An der Westküste Jütlands

Die Westküste Jütlands, auf Höhe des Ringkøbing Fjords, Spätsommer. Ich habe für ein paar Tage ein kleines Holzhaus in den Dünen gemietet. Warme, sonnige Spätsommertage mit stetigem Westwind. Perfektes Wetter um die jetzt fast menschenleeren Strände abzulaufen, die Saison ist vorbei und viele der Ferienhäuser stehen schon leer. Wenn ich morgens in der Küche meinen Kaffee koche, habe ich eine gute Sicht auf den Ringkøbing Fjord. Jeden Tag sehe ich denselben Fischer, der im klaren Morgenlicht mit seinem kleinen Boot seine Netze und Reusen kontrolliert und wieder neu auslegt. 


Aber mich zieht es an die Nordseeküste. Bei stabilen Westwindlagen gibt es hier reich gedeckte Strände für Treibholzsammler. Von den kleinen Häusergruppen in den Dünen führen schmale Holzstege durch die mit Heide bewachsenen Sandflächen und die vorgelagerten Dünenzüge hinunter Richtung Strand. Kurz vor den letzten Dünenzügen geht der Bohlenweg in einen von hohem Strandhafer gesäumten Sandweg über. Auf dem Kamm der letzten Düne bleibe ich immer erstmal stehen. Hier ist man voll dem Westwind ausgesetzt, aber man hat einen phantastischen Blick auf die See. Die langgezogenen Kämme der Dünung brechen an einer vorgelagerten Sandbank, an Tagen mit stärkerem Wind und Hochwasser auch direkt vor dem Strand. Ein Stück weiter südlich liegt eine große gekenterte Plattform vor der Küste.

Vom Dünenkamm aus sind auch deutlich die schmalen tückischen Rippströmungen zu sehen, in denen sich das an die Küste getriebene und sich dort aufstauende Wasser kraftvoll seinen Weg zurück in die offene See bahnt. Als Schwimmer sollte man die Rippströme meiden, aber wenn man sich selbst im Wasser befindet sind sie in der Brandung nur schwer zu erkennen.

Dort, wo die Pfade durch die Dünen auf den Strand treffen, steht am seewärtigen Fuß der Düne meist ein Holzpfahl mit einem Rettungsring und einigen warnenden Hinweisen. Und daneben steht ein großer Korb mit Müll und das Meiste davon ist Plastikmüll. Die meisten Strandläufer sammeln den angetriebenen Müll auf und deponieren ihn in den Körben, die alle paar Tage geleert werden. Diese Körbe sind meist gut gefüllt, obwohl jetzt nur noch wenige Urlauber am Strand sind. Zu den häufigsten Teilen gehören Reste von Fischnetzen, zerfaserte Kunststoffleinen, Flipflops, Plastikflaschen, Verpackungsreste, Folien jeglicher Größe, Schraubverschlüsse, Bierdosen, Kinderspielzeug und vieles mehr. Auch ich nehme jedes Mal auf dem Rückweg so viel angetriebenen Müll mit wie ich tragen kann.

Nach ein paar Tagen schlägt das Wetter um. Das helle Blau des Himmels verwandelt sich in ein dunkles Grau und statt der typischen hoch und langsam treibenden weißen Schäfchenwolken jagen jetzt schwere dunkle, tiefhängende Wolkenbänke auf die Küste zu. Gegen Mittag frischt der Wind weiter auf, dreht auf Nordwest und es wird deutlich kühler. Es bleibt bei den Shorts, aber statt des T-Shirts gibt es jetzt ein dickes Sweatshirt und einen Anorak darüber. In der Nacht wird es richtig stürmisch. Es regnet in Strömen, der Wind prasselt an die Scheiben und das Haus ächzt unter den schweren Böen.


Am nächsten Vormittag, als der Regen für kurze Zeit etwas nachlässt, gehe ich an den Strand. Die See kocht mit weißen brechenden Wellenkämmen, die Dünung reicht fast bis an den Dünenfuß und der Wind treibt mir den Algenschaum ins Gesicht. Es sieht aus, als würden die dunklen Wolken fast die Wellen berühren. Die Brille ist nach wenigen Minuten von einer salzigen Schmierschicht bedeckt. Ich laufe ein kleines Stück den verbliebenden schmalen Strandstreifen entlang und entdecke mehrere angetriebene Baumstämme und etwas weiter einen toten jungen Seehund.

So geht das fast über drei Tage. Dann, am späten Nachmittag, legt sich der Wind etwas. Noch immer treiben Schauer von See her über die Dünen, aber zwischendurch reißt der Himmel stellenweise auf und weite Flecken mit einem kalten gleißenden Sonnenlicht ziehen über das Land und den Fjord.
 

Als ich nach dem Sturm wieder an den Strand komme, ist dieser deutlich schmäler und es tobt noch immer eine starke Brandung. Die kühle, klare Luft aus dem Norden bewirkt eine gute klare Sicht. Die gekenterte Plattform scheint jetzt näher am Strand zu liegen, aber das kann auch eine optische Täuschung sein. Es liegt viel Treibgut am Strand. Holz vom Stöckchen bis zum Baumstamm, verschiedene Sorten von Plastikmüll, tote Fische und Krebse und auch der tote Seehund liegt noch dort. Die Wunde am Rücken könnte ein Hinweis auf eine Verletzung durch eine Schiffsschraube sein. Möwen stolzieren am Spülsaum entlang und kämpfen verbissen um die toten Fische und Krebse, einige machen sich auch an dem toten Seehund zu schaffen. Mit empörenden Schreien fliegen sie auf, als ich näher komme.
 

Der starke Wind der letzten Tage hat fast den ganzen lockeren Sand in die Dünen geblasen. Als ich in Richtung Süden laufe um mir die Plattform genauer anzusehen, fällt mit noch etwas auf. Überall, wo die Wege zum Strand hinunter führen, hat sich der Weg ein wenig in die Dünnen eingeschnitten, so dass eine Art kleiner Pass entstanden ist. Durch diese Einkerbungen in den Dünenkämmen wird der von See kommende Wind kanalisiert und nimmt dabei noch mehr Sand mit. Dadurch werden diese Einschnitte mit der Zeit immer tiefer und es werden auch tiefere Schichten der Dünnen freigelegt. Und an all diesen Durchgängen hat der Wind Kunststoffteile verschiedenster Art und Größe freigelegt, die schon fest in die Dünen eingearbeitet waren. Wie lange wohl schon?
 

Großräumige ozeanweite Stromsysteme, lokale Gezeitenströme, Winddrift und Brandung transportieren Treibgut aus dem Meer mittlerweile an alle Strände dieser Welt. Was da an die Strände gespült wird, reicht von natürlichen Materialien wie Seegras und Tang über tote Meeresbewohner (Fische, Krebse, Seevögel, Quallen, Meeressäuger), von Schiffen bei Stürmen über Bord gegangene Ladung (vom Container bis zur Gummiente) bis hin zu illegal entsorgtem Müll und den Rückständen aus eingeleiteten Abwässern. Und diese Aufzählung ist bei Weitem nicht vollständig. Und einen ständig wachsenden Anteil haben Kunststoffe vom Makro- bis zum Micro- und Nanoplastik.

Die britische Schriftstellerin Jean Sprackland bringt es in ihrem Buch Strands – A Year of Discoveries on the Beach wunderbar auf den Punkt[1]. Über ein Jahr lang hat sie „ihren“ Strand an der englischen Westküste zwischen Liverpool und Blackpool beobachtet und schreibt: „The trouble is that the language doesn’t reflect the reality. We talk about ‘getting rid’ of what we no longer want; the original meaning of the word ‘rid’ was to clear, but because plastic is so durable we can never really be clear of it. It lives on in the system, turning up on this or that beach according to a logic beyond our own. We ‘throw things away’, but we can never throw them far enough; the sea always brings them back”.

Eine internationale Gruppe von Forschern hat in der Tiefsee des Mittelmeeres sogenannte Hotspots entdeckt, in denen sie – bedingt durch unterseeische Hangrutschungen und Tiefenströmungen – bis zu 1,9 Millionen (!) Partikel Mikroplastik auf einem Quadratmeter nachweisen konnten[2]. In unseren Breiten sind infolge der vorherrschenden Winde natürlich besonders die Westküsten betroffen. Ob am Atlantik, der Irischen See oder an der Nordsee, ich kenne keinen Strand, an dem ich keine Kunststoffteile gefunden habe. Die Auswirkungen auf Meeresbewohner und Seevögel sind oft verheerend. Auf all unseren See-Expeditionen habe ich Seevögel gesehen, denen Kunststofffolien oder -leinen aus dem After oder Schnabel hingen.

Im Sechsten Globalbericht der Vereinten Nationen heißt es: „Meeresmüll, einschließlich Kunststoffe und Mikroplastik, ist heute in allen Ozeanen in allen Tiefen zu finden.“ Und weiter: „Die zunehmende Präsenz und Häufigkeit von Mikroplastik hat potenzielle negative Auswirkungen auf die Gesundheit sowohl von Meeresorganismen (etabliert aber unvollständig) als auch von Menschen (ungeklärt)“[3].

Aber was können wir dagegen tun? Global betrachtet wenig, aber lokal ist doch einiges möglich. Ist es zu viel verlangt, wenn wir nach einem schönen Strandtag, ganz gleich zu welcher Jahreszeit, unseren eigenen Müll wieder mitnehmen? Und vielleicht können wir uns auch ein paar Minuten Zeit nehmen, und die Dinge die offensichtlich nicht an den Strand gehören, einsammeln und entsorgen? Egal, ob es sich um einen hölzernen Eisstiel, eine Plastikflasche oder den Rest eines Fischernetzes handelt. Die großen Körbe an den dänischen Stränden sind ein guter Ansatz und eine gute Investition für die Umwelt! Aber wir können auch überlegen, wo wir in unserem Alltag Kunststoffe durch umweltfreundlichere Materialen ersetzen können. Und wenn es sich nicht vermeiden lässt, können wir wenigstens dafür sorgen, dass die Kunststoffe recycelt oder fachgerecht entsorgt werden.
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 Aber es gibt auch sehr spezielles Treibgut: Ich ging vor einigen Jahren am frühen Morgen an der Nordspitze Jütlands am Strand entlang und bekam einen riesigen Schreck. Im ersten Augenblick dachte ich, ich hätte einen Toten entdeckt. In einem Überlebensanzug auf dem Bauch liegend, die Arme weit ausgestreckt, der Körper scheinbar in der Mitte zerschmettert lag er am Strand. Erst als ich näher kam, bemerkte ich meinen Irrtum. Der lebensrettende Anzug war wohl versehentlich über Bord gegangen und hatte sich in der Brandung mit Sand gefüllt, bevor ihn eine Welle während des nächtlichen Hochwassers endgültig auf den Strand warf. Er war durch den nassen Sand so schwer, dass ich ihn nicht bewegen konnte. Hier war die Entsorgung ein Fall für den Strandvogt. 


Die letzten Tage meines Urlaubs an der Westküste Jütlands sind durchwachsen. Sonne und Wolken im Wechsel, ab und zu ein kurzer aber kräftiger Schauer. Aber die klare kühle Luft sorgt für eine gute Sicht und lässt farbliche Nuancen deutlicher hervortreten. Ich werde nicht müde, die sich ständig ändernden Farben des Himmels und des Wassers zu beobachten. Beide können das gesamte Spektrum von fast Grün über Blau bis zum tiefsten Grau abdecken. Und am Abend kommen mit etwas Glück noch diverse Rottöne dazu. Dazu die Grüntöne der Heide- und Dünenflächen, die, wenn sie der Wind in ein wogendes Feld verwandelt, ebenfalls ständig ihre Farben ändern. 

Und auch wenn der Sommer jetzt endgültig vorbei ist, es ist das ideale Wetter für Strandläufer. Und zum Aufwärmen gibt es die kleinen hyggeligen Cafés in Hvide Sande oder Ringkøbing. Zum Abschied steige ich noch einmal auf den Leuchtturm von Lyngvig. Wenn man durch die kleine Luke auf den oberen Umlauf klettert, nimmt einem der stramme Nordwest fast den Atem. Aber der Ausblick ist spektakulär: Im Westen die Nordsee, im Osten der Ringkøbing Fjord und dazwischen der Leuchtturm mitten in einem Dünenmeer. 


 September 2016 / Juli 2020


[1] Jean Sprackland: Strands – A Year of Discoveries on the Beach. Vintage Books, London 2013, 241 Seiten.
[2] Kane, I.A. et al., 2020: Seafloor microplastic hotspots controlled by deep-sea circulation. Science 10.1126/science.aba5899.

[3] UN environment, 2019: Sechster Globaler Umweltbericht, Zusammenfassung für Politikentscheider. https://wedocs.unep.org/handle/20.500.11822/27652

Das Foto des jungen Basstölpels mit dem Kunststoff im Schnabel hat Ole Kattein freundlicherweise zur Verfügung gestellt, alle anderen Bilder sind von mir.