Die Halle der Wale

Tomintoul ⎈ Bergen


Anfang September 2013 lag das irische Forschungsschiff CELTIC EXPLORER direkt vor der Hakonshalle am Festningskaien in Bergen. Wir hatten knapp vier Wochen in der Nordsee und im angrenzenden Nordatlantik gearbeitet und es waren noch zwei Tage bis zum unserem Rückflug nach Hamburg.

In diesem Jahr hatten wir besonders viele Wale gesehen, deshalb wollte ich die Gelegenheit nutzen und mir zusammen mit meinen Freunden Peter und Christian noch einmal den HVALSALEN mit seinen vielen Walskeletten im Naturhistorischen Museum ansehen. Das Museum liegt im Universitätsviertel auf einem Hügel im Zentrum von Bergen, unweit der weithin sichtbaren Johanniskirche. Den Vortag hatte es den ganzen Tag in Strömen gegossen, aber heute leuchteten die Fronten der bunten Holzhäuser auf beiden Seiten des Hafenbeckens im Sonnenlicht und spiegelten sich im Wasser.

Es waren nur wenig Besucher im Museum und wir hatten den HVALSALEN ganz für uns. Dicht an dicht hingen die Skelette der verschiedenen Walarten von der Decke oder standen auf Gestellen am Boden, kleinere Exponate lagen in alten Holzschränken und gläsernen Vitrinen. Nachdem wir uns eine Weile umgesehen hatten, fielen uns die beiden etwa handtellergroßen Knochenplatten auf, die etwa auf der Höhe des Übergangs vom eigentlichen Walkörper zur Fluke ohne eine feste Verbindung zum restlichen Skelett an Fäden unter den Skeletten hingen. 

Braungebrannt und unrasiert nach der langen Seereise standen wir unter den Skeletten und waren am Diskutieren, als eine Familie mit Kindern auf einen der Seiteneingänge des Saales zuging. Aus den Augenwinkeln beobachtet ich, wie eine der Museumswärterinnen auf die Familie zuging, den Finger an den Mund legte mit einer Handbewegung andeutete, sie mögen doch noch einen Augenblick warten. So wurden wir von einer Minute zur anderen von Ozeanographen zu Walforschern, die bei ihrer Arbeit nicht gestört werden durften.


Vier Jahre später: Im Juni 2017 war ich mit meinem Freund Peter und seiner Frau für ein paar Tage im Norden Schottlands, zum Wandern in den Cairngorms. Wir hatten ein wunderschönes 170 Jahre altes Pfarrhaus am Ufer des Avon gemietet, unweit des Dorfes Tomintoul. Im Dorf gab es, neben zwei oder drei Pubs, ein paar kleinen Hotels, eine kleine Kunstgalerie und eine Handvoll Läden. In einem dieser kleinen Läden wurden ein kleines Sortiment an Outdoor-Kleidung, lokales Kunsthandwerk und einige Bücher mit regionalem Bezug angeboten. Dort stieß ich beim Rumstöbern auf das Buch „Sightlines“ von Kathleen Jamie mit Essays und Berichten aus dem nördlichen Schottland und über die umliegenden Inseln [1]. Jedem Kapitel des Buches war eine interessante Schwarz-Weiß-Aufnahme vorangestellt. Ich las einige Kapitel an, das Buch gefiel mir und ich kaufte es.

Am frühen Abend saßen wir in der Küche unseres alten Pfarrhauses, einem der gemütlichsten Räume im Haus, mit einem großen Tisch vor dem Fenster mit Blick auf das Tal des Avon. Wir saßen auf der Bank vor dem Ofen, einem großen blauen AGA (von dem wir seitdem immer träumen wenn uns mal kalt ist) und blickten auf den kahlen Südhang des Cairn Bullantruan am anderen Ufer. Im letzten Licht der untergehenden Sonne wirkten die auf dem Hang grasenden Schafe wie langsam umhertreibende Wollknäule. Im Rücken die behagliche Wärme des ölbetrieben AGAs nahm ich das neuerworbene Buch zur Hand und sah mir die den Kapiteln vorangestellten Bilder an. Plötzlich stutzte ich. Eines der Bilder zeigte den Ausschnitt eines großen Saales mit gewaltigen Walskeletten. Ich hielt Peter das Buch hin. „Kommt dir das bekannt vor?“ „Da waren wir doch, vor ein paar Jahren, in Bergen.“ 

Wir sahen uns an, ich sah uns in Gedanken wieder unter den gewaltigen Skeletten sitzen. Auch auf Peters Gesicht erschien ein versonnenes Lächeln. Ein Kreis hatte sich geschlossen. Wir legten das Buch beiseite, es war Zeit für das Abendessen.


Zufällig hatte auch Kathleen Jamie das Museum wenige Jahre vor uns besucht, als sie von einem der für Bergen so typischen plötzlichen Regengüsse überrascht im Museum Schutz suchte. Dabei entdeckte sie auch den HVALSALEN und war von einem Exponat so fasziniert, dass sie eine der Kuratorinnen des Museums kontaktierte und mir ihr ins Gespräch kam. Kurz nach ihrem Besuch wurde das Museum für vier Jahre geschlossen und komplett renoviert, insbesondere aber der HVALSALEN mit den vielen Skeletten. Auf Einladung der Kuratorin hat Kathleen Jamie das Museum während der Schließung wiederholt besucht und berichtet in diesem Kapitel ihres Buches detailliert über die Geschichte und Restauration des HVALSALEN und insbesondere der Skelette. Und dort berichtete sie auch über die beiden etwa handtellergroßen Knochenplatten, über deren Funktion wir vor vier Jahren so angeregt unter den Skeletten diskutiert hatten.


Das dies die evolutionären Relikte der Beckenkochen waren, die beim Übergang der Wale von Landsäugern zu Meeressäugern ihre Funktion verloren hatten, hatten wir aber schon vor vorher herausbekommen.


September 2013 & Herbst 2017


[1] Kathleen Jamie: Sightlines, A Sort of Book, 2012.
Abbildungen der Walhalle: http://www.uib.no/en/universitymuseum/67583/whale-hall
Fotos: © H. Klein